Wenn der Boden nicht mehr trägt
Mit den Wirkungen und Folgen von Trauma beschäftigten sich 130 Fachkräfte aus sozialen Bereichen bei einem Fachtag, organisiert von der Fachschule für Heilpädagogik am Institut für Soziale Berufe (IfSB) in Ravensburg. In zwei Fachvorträgen und anschließenden Vertiefungsworkshops wurden verschiedene Facetten der Thematik sowie unterschiedliche Bewältigungsstrategien und Möglichkeiten zur Heilung beleuchtet.
Thematik: urmenschlich und ernst
„Es ist eine urmenschliche Erfahrung, verletzlich zu sein, und in unserer Arbeit stehen seelische und psychische Verwundungen oft im Vordergrund“, mit diesen Worten eröffnete Prof. Dr. Florian Kluger, Leiter des Instituts für Soziale Berufe in Ravensburg den Fachtag. Es ist eine ernste Thematik und seine Ausgangsthese lautet: „Nur wer sich das Trauma anschaut, kann es auch heilen.“
Der Boden bricht weg
Kriegs-Traumata, Gewalt-Traumata, Kindheits-Traumata, aber auch Traumata durch Flucht und Vertreibung, Unfälle, Verlusterfahrungen oder Naturkatastrophen wie Hochwasser – Traumata äußern sich in einer Fülle von Formen. Der gemeinsame Nenner ist eine so starke seelische Erschütterung, dass der Mensch aus dem Gleichgewicht gerät und bisherige Bewältigungsstrategien nicht mehr funktionieren. Das seelische Immunsystem ist komplett überfordert und es treten Symptome auf. Dazu zählen Vermeidung und Verdrängung, nicht selten Abspaltung, manchmal auch Entfremdungssymptome und Wiederholungszwänge. Es ist, als ob der Boden unter den Füßen wegbricht. Was aber trägt einen traumatisierten Menschen dann noch?
Das Potenzial von Religion
Eine mögliche Antwort darauf gab Dr. Dr. Ralf Lutz, Theologe und Psychologe an der Universität Tübingen: „Eine gesunde und lebensdienliche Religion, ganz egal welche, bietet ein großes Potenzial zur Prävention und Bewältigung von traumatischen Erfahrungen.“ Zwischen einem Trauma und Religion besteht der Zusammenhang, dass beides den Menschen zuinnerst berührt. „Das Trauma bringt die gesamte Persönlichkeit zum Wanken. Religion dagegen bietet einen Raum, in dem sich der ganze Mensch verankern kann“, erläuterte Lutz in seinem Vortrag. Für ihn besteht ein wichtiger Zusammenhang zwischen dem, was einem Menschen Halt gibt, seiner Lebenseinstellung und dem, was er daraus im Verhalten zeigt. „Wir sind als Menschen so gestrickt, dass wir uns einen Reim auf unser Leben machen wollen, dass unser Leben gelingt und wir die Frage nach dem Sinn des Lebens beantworten können.“ Die Art und Weise wie ein Mensch sein Leben versteht, ist demnach für die Bewältigung von Trauma fundamental, weil sich daraus wichtige Ressourcen ableiten lassen. Im Idealfall bietet eine Religion eine Antwort auf die Sinnfrage und somit das Potenzial Traumatisierungen entgegen zu wirken. Oder um es mit Nietzsches Worten zu sagen: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.
Haltungen als Schutzfunktion
Auf äußere Situationsfaktoren hat der Mensch oft wenig Einfluss, auf subjektive Bewertungen jedoch umso mehr. Für Lutz ist die Freiheit, wie ein Mensch auf das reagiert, was ihm angetan wird, ein wichtiger Schlüssel im Umgang mit Traumata. „Es ist empirisch belegt, dass bestimmte Haltungen wie Hoffnung, Dank, Versöhnung und Vertrauen, seelische und körperliche Heilungsprozesse in Gang setzen können und in hohem Maße präventiv gegenüber Traumatisierungen wirken“, so Lutz, der diese Haltungen im systematischen Rahmen von Religion wiederfindet. Eine weitere Schutzfunktion belegt die Resilienz. Menschen mit einem hohen Gefühl von Kohärenz sind besser in der Lage, Stressoren zu bewältigen und dazu notwendige Ressourcen auszuwählen. Menschen mit einem niedrigen Kohärenzgefühl haben dagegen Schwierigkeiten, die Belastungen in ihrem Leben zu bewältigen. Es besteht eine größere Gefahr der Traumatisierung. In der Beratung und Begleitung von traumatisierten Menschen liegt für Lutz ein Schlüssel in der Erschließung von Werten und Sinnentdeckung. „Manchmal müssen wir mit den Menschen, die wir begleiten, über das Leben philosophieren“, meint Ralf Lutz.
Das Wiederherstellen von Würde
In einem zweiten Fachvortrag „Trauma als Chance zu einer authentischen Identität“ beschreibt Andre Jacomet die Notwendigkeit, ein Trauma zu bewältigen, um zu werden, wer man wirklich ist. „Wenn man nur einen Teil lebt, von dem was man ist, macht das Probleme“, erklärt der Traumatherapeut. Dabei ist es wichtig zwischen Identifikation und wirklicher Identität zu unterscheiden. Die neurotische Identifikation mit Meinungen oder Symbolen polarisiert die Menschen und hat eine enorme Kraft, aber was darin fehlt, ist die Würde – für Andre Jacomet ein zentraler Punkt beim Umgang mit Traumata: „Jedes Trauma geht einher mit einem Verlust an Würde. Wollen wir das Trauma heilen, müssen wir die Würde wieder herstellen.“ Und ein bearbeitetes Trauma kann als gewachsene Identität verstanden werden. In der Therapie dreht sich viel um die Frage „Wie kann ich mich in der Welt verkörpern?“ Das ist nur möglich, wenn das Trauma als Hindernis beseitigt wird, wenn man sich vom Trauma löst, um sich selbst zu verwirklichen. „Traumata müssen prozessiert werden“, so Andre Jacomet.
Trauma und Körperarbeit
In seiner Arbeit als Traumatherapeut greift er dabei unter anderem auf die Somatic Experiencing (SE)® von Peter Levine zurück. Dabei wird das Trauma nicht in erster Linie durch das Ereignis, sondern durch die körperliche Reaktion auf das Ereignis definiert. In einer bedrohlichen Situation läuft automatisch ein Notprogramm ab: Kampf, Flucht, Erstarrung oder Kollabieren. Erst wenn die dabei mobilisierte immense Energie entladen wurde, ist für den Körper die Gefahr vorbei. Ansonsten bleibt er weiterhin in Alarmbereitschaft. „Wenn wir die in dieser bedrohlichen Situation mobilisierte Energie später nicht irgendwie entladen können, zum Beispiel von uns abschütteln, bleibt sie im Nervensystem gefangen. Das nennen wir Trauma“, erklärt Andre Jacomet. Ein Trauma ist verarbeitet und integriert, wenn man daran denken und darüber sprechen kann, ohne dass das Nervensystem in Stress gerät. Es wird zu einer Erfahrung, die nicht länger das Leben bestimmt.