Freiheit und Verantwortung

Wir können Beziehungen nur gestalten, wenn wir die Gesprächsfäden nicht abreißen lassen – auch wenn es um kontroverse Themen wie das Impfen geht.

Im Gespräch nimmt Stiftungsvorstand Dr. Joachim Schmidt persönlich Stellung und beschreibt, was der Umgang mit dem Thema „Impfen“ für die Mitarbeiter*innen in unseren Einrichtungen und für unseren Auftrag als katholische freien Schulen bedeutet.

Bischofskonferenz bis Bundestagspräsident – immer mehr Institutionen und Vertreter*innen rufen zum Impfen auf. Auch Sie als Vorstand der Stiftung Katholische Freie Schule, der Dachorganisation von über 90 katholischen freien Schulen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, haben sich bereits an alle Mitarbeiter*innen gewandt, um sie für das Impfen zu sensibilisieren. Was ist ihr besonderes Anliegen als Vorstand der Schulstiftung?

JS: In unseren Schulen und Kindergärten haben wir eine Fürsorgepflicht für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Alle jüngeren Kinder haben bisher noch keinen Impfschutz. In Kitas und Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren können sich die Kinder teilweise nicht durch Masken schützen. Als Erwachsene und als Verantwortliche in den Einrichtungen sind wir in besonderem Maße verpflichtet, Kinder und Jugendliche zu schützen. Dies können wir durch die Einhaltung der geltenden Hygienemaßnahmen tun und insbesondere auch dadurch, dass wir durch die Impfung mithelfen, die Verbreitung von Covid 19 einzudämmen.

Oft hört man von der eigenen Freiheit und der privaten Entscheidung, sich impfen zu lassen oder eben nicht. Der Marchtaler Plan als Erziehungs- und Bildungsplan für katholische Schulen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart greift die menschliche Erfahrung von Freiheit auf und stellt sie sogar ins Zentrum.

JS: Das ist „halb richtig“: Der Marchtaler Plan bezieht sich als eine wesentliche Grundlage auf die Erfahrung der menschlichen Freiheit und meint erst einmal die Ermöglichung von Freiheit. Aber - das ist an dieser Stelle ganz entscheidend -, der Satz geht weiter: Es geht um die Erfahrung von Freiheit und Verantwortung. Freiheit ist nicht ohne Verantwortung zu haben! Das ist eine wesentliche Grundlage des Erziehungs- und Bildungsverständnisses an unseren katholischen freien Schulen. Freiheit und Verantwortung müssen und dürfen gelernt und eingeübt werden. Das gilt nicht nur für unsere Kinder ab der Kita und für unsere Schüler*innen bis zum Abitur, sondern auch für die Mitarbeitenden.

Können der Marchtaler Plan bzw. die Haltungen, die hinter dieser pädagogischen Konzeption stehen, und die für die Mitarbeiter*innen an den kath. freien Schulen und Kitas leitend sind, dabei helfen, eine Entscheidung im Hinblick auf die Frage „Impfen? Ja oder nein?“ zu treffen?

JS: In dieser Pandemie sind wir alle herausgefordert und aufgefordert, dazu zu lernen. Immer wieder müssen wir für uns das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung auszuloten. Insofern kann der Marchtaler Plan, auch wenn er eigentlich eine andere Funktion hat, auch in dieser Frage eine Orientierung geben. Der Marchtaler Plan rückt den Menschen und die Beziehungen in den Fokus. Und unsere Mitarbeiter*innen bemühen sich täglich, diese theologisch-anthropologischen Grundlagen in der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen mit Leben zu füllen. Dazu gehört doch auch eine so wichtige Entscheidung einer Impfung jeder und jedes einzelnen in einer Pandemie, die uns in die große Weltgemeinschaft einspannt.

Im Sommer haben viele Menschen gehofft, dass die Pandemie durch zunehmende Impfungen weitgehend überwunden werden kann oder handhabbarer wird. Vieles ist in den Kindergärten und Schulen durch regelmäßige Tests wieder möglich gewesen. Nun stehen wir wieder vor Weihnachten mit dramatischen Bildern von vollen Intensivstationen. Das Infektionsschutzgesetz gibt den Ländern wieder die Befugnis, Maßnahmen wie bspw. Schulschließungen zu ergreifen. Auch wenn das Antasten der Kitas und Schulen als "ultima ratio" gilt - macht Sie das nicht furchtbar nervös als Vorstand von so vielen Einrichtungen?

JS: Aus meiner Bekanntschaft kenne ich persönlich Klinikmitarbeiter*innen, die mir den derzeitigen dramatischen Alltag in den Kliniken schildern. Insofern beunruhigt mich das sehr. Und unter unserem Dach gibt es auch die drei großen Institute für soziale Berufe mit mehreren Pflegeschulen. Die Auswirkungen der Pandemie auf die Praxis in den Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen sowie auf die schulische Ausbildung sind enorm. In der Konsequenz werden sie sicherlich auch zu einer nicht unerheblichen Zahl von Ausbildungsabbrüchen führen. Dabei brauchen wir die Pflegefachfrauen und -männer gerade jetzt!
Gleichzeitig wissen wir, dass viele der Infektionen, die bei den Schulkindern durch die häufigen Testungen derzeit entdeckt werden, von außen in die Schulen getragen werden. Wir alle können daher einen Beitrag dazu leisten, unser Gesundheitssystem nicht zum Kollaps zu führen und unsere Schulen offen zu halten. Jede und jeder einzelne ist ein Puzzlestück, wenn es darum geht, Infektionen zu verhindern: durch das Einhalten der Hygieneregeln, das Reduzieren von Kontakten und das Impfen. Insofern hoffe ich, dass die Kitas und Schulen offen bleiben können, solange es auch den Kindern, Familien und Mitarbeitenden gegenüber zu verantworten ist.

Wie viele andere Organisationen und Unternehmen unterstreichen Sie das Impfen als notwendigen Beitrag zur Pandemiebekämpfung, den jede und jeder verantwortlich wahrnehmen sollte…

JS: Das Impfen ist und bleibt - auch nach den Modellierungen der Experten - der einzige Ausweg, um wieder aus dieser ewigen Widerkehr von Lockerungen und Lockdowns herauszukommen. Ich wünsche mir das nicht nur für mich selbst (wie es sich wahrscheinlich jede und jeder wünscht), sondern auch für die vielen Kinder und Jugendlichen. Sie sind stark durch die Pandemie belastet, die nun nahezu zwei Jahre andauert. Die Opfer der Pandemie sind nicht nur die Toten, deren Zahl erschreckend unbemerkt stetig gestiegen ist, sondern auch die vielen Kinder, denen viele Begegnungen und Erfahrungen verwehrt werden.

Die Lage hat sich in den letzten Wochen immer mehr zugespitzt. Manche sprechen von einer Spaltung, die durch unsere Gesellschaft, durch Familien, Freundeskreise und auch durch unsere Einrichtungen geht. Geimpfte und Ungeimpfte werden immer mehr gegenübergestellt, der Druck auf die Ungeimpften wächst, das gegenseitige Verständnis scheint aufgebraucht. Wie nehmen Sie selbst das wahr?

JS: Kolleg*innen, die sich bisher noch nicht zu einer Impfung entschlossen haben, gibt es auch in unseren Einrichtungen. Sicherlich sind die Gründe oder Ängste, die die Einzelnen von einer Impfung abhalten, unterschiedlich. Ich denke, dass es wichtig ist, Bedenken ernst zu nehmen, Informationen bereit zu stellen und ärztliche Beratung wahrzunehmen, um sich über das Impfen zu informieren. Gemeinsam mit dem Betriebsarzt oder Hausarzt kann am besten geklärt werden, was es nach einer Impfung zu beachten gilt oder welcher Impfstoff der geeignete ist. Auf Fragen zu Unverträglichkeiten bei bestimmten Zusatzstoffen oder Wechselwirkungen mit dauerhaft eingenommenen Medikamenten können so Antworten gegeben werden.

Haben Sie eine eigene Haltung entwickelt, wie Sie mit dieser Situation umgehen?

JS: Ich denke, wir sollten über unterschiedliche Positionen sprechen und das eigene Unbehagen nicht tabuisieren. Man kommt nicht daran vorbei, sich damit zu befassen, wie wir uns und andere Menschen schützen und wie wir mit den Risiken durch das Virus umgehen. Bei der Planung des Weihnachtsfests, beim Restaurantbesuch, immer wieder sind wir mit diesen Fragen konfrontiert und müssen für uns eine Entscheidung treffen. In unseren Schulen und Kindergärten wird besonders augenscheinlich, wie wir als Erwachsene Verantwortung in unserem Umfeld und für die Kinder und Jugendlichen in unseren Schulen und Kitas übernehmen können. Dass Freiheit und Verantwortung unmittelbar miteinander verbunden sind, wie wir es im Marchtaler Plan beschreiben, wird in der besonderen Situation der Pandemie deutlich und fordert uns heraus. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen, ganz individuell und jeden Tag. Nur so kann es gelingen, Beziehung und Gemeinschaft an unseren Einrichtungen in Freiheit und Verantwortung zu leben.

Wie gehen Sie selbst in Gesprächen mit unterschiedlichen Haltungen zum Thema „Impfen“ um und was würden Sie Kolleg*innen für solche Gespräche konkret empfehlen?

JS: Für mich persönlich und als Vorstand der Stiftung Katholische Freie Schule ist es eine Grundüberzeugung, dass wir diejenigen, die sich bisher noch nicht für eine Impfung entscheiden konnten, nicht verurteilen. Vielleicht sind derzeit die Gräben zwischen Geimpften und Ungeimpften schon so tief, dass man sich die Bedenken und Ängste gar nicht mehr anhören möchte oder kann. Das kann ich auf der einen Seite nachvollziehen, weil die Geduld abnimmt. Auf der anderen Seite nehme ich es als bedenklich wahr, wenn man das Gespräch einfach abbricht und die Frage des Impfens zum Tabu wird. Aus der eigenen Erfahrung weiß ich, dass es beiden Seiten guttun kann, sich Bedenken und Ängste des Gegenübers anzuhören bzw. sie auszusprechen. Dennoch ist für mich wichtig, dass ich in einem Gespräch auch klar sagen darf, dass ich die Haltung derjenigen, die sich nicht impfen lassen, nicht teilen kann.

Haben Sie bereits Ihre Boosterimpfung bekommen?

JS: Ja. Nach der empfohlenen Zeit nach der Zweitimpfung habe ich mich um einen Termin bemüht. Und die Möglichkeit, rasch einen Impftermin zu bekommen, sind durch die Popup-Impfzentren und viele Impfaktionen derzeit sehr gut. Eine herzliche Empfehlung an alle unsere pädagogischen Fachkräfte, Lehrkräfte, Verwaltungsmitarbeitende, an die Schüler*innen und Auszubildenden an unseren Schulen: Informiert euch, macht mit und leistet einen Beitrag für uns alle - #jedeimpfungzaehlt.

 

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